Die Geschichte vom Minsener „Seewiefken“

Der Legende nach – das heißt, dass es kaum wahr ist, aber irgendwas wohl dran sein muss – lag der Ort Minsen ursprünglich auf einer Insel. Tatsächlich gibt es noch heute eine Sandbank, die Minsener Oog heißt. Sie liegt östlich von Wangerooge, sie ist unbewohnt und wenn sich der Ort Minsen jemals auf einer Insel befunden haben könnte, dann höchstwahrscheinlich dort.

Nehmen wir also an, dass dem so war. Dann bestand Minsen zu jener Zeit aus einer Handvoll geduckter Hütten, die sich auf einer flachen Warft um eine kleine Kirche, um einen Brunnen oder eine windschiefe Linde drängten.

Das Leben auf dieser Insel dürfte nicht einfach gewesen sein. Ein paar Schafe, ein paar Hühner und vielleicht noch ein kleiner Gemüsegarten mit einem Kartoffelbeet: für viel mehr gab es keinen Platz auf der Minsener Oog. Deshalb verdienten sich die Bewohner ihren Lebensunterhalt hauptsächlich mit Fischen.

Täglich fuhren sie in ihren kleinen Booten mit dem Ebbstrom hinaus und kamen mit der Flut zurück – wenn sie Glück hatten. Manche hatten kein Glück und blieben draußen in der launischen Nordsee. Andere kamen wieder mit prallen Netzen und Fässern voll Heringen, Schollen und Kabeljau.

Eines Tages ging den Minsener Fischern etwas Unglaubliches ins Netz: eine junge Frau mit langen Haaren, wohlgestaltem Oberkörper und einem muskulösen Fischschwanz, der aber nicht in einer Flosse, sondern in einer weit geschwungenen Fluke endete.

Die Fischer brachten ihren Fang an Land und sollen ihn dort zum Vergnügen aller Inselbewohner schikaniert haben. Irgendwann gelang der Meerjungfrau die Flucht. Wie eine Schwalbe flog sie über das Watt. Sie sprang in die Jade, tauchte mit unbeschreiblich funkelnden Augen wieder auf und spritzte mit den Händen Wasser auf die Dünen. Dann verschwand sie.

Am nächsten Morgen trauten die Minsener ihren Augen nicht. Ihre Insel war weiß wie Schnee, weil sie über und über mit Möwen bedeckt war. Später kam Wind auf, der im Verlauf des Tages zum Sturm wurde. Die Möwen flogen schreiend davon und der Sturm wurde zum Orkan. Mitten in der Nacht, als sich die Minsener in ihrer Kirche zum Gebet versammelt hatten, kam die Nordsee über die Dünen, sie überflutetet die gesamte Insel und riss das Dorf samt Kirche und allen Einwohnern in die Tiefe.

Soweit die Legende, deren erste Niederschrift aus dem 16. Jahrhundert stammt. Selbst wenn dieses Ereignis niemals oder womöglich ganz anders stattgefunden hat, blieb es nicht ohne Folgen. Zum einen hat sich bis heute eine Redewendung erhalten. Sie lautet auf plattdeutsch „Dat geiht ut as dat Beten to Minsen“, und bedeutet, dass man sich keine falsche Hoffnungen machen sollte.

Zum zweiten wurde im Jahr 1952 der damaligen Gemeinde Minsen ein Wappen genehmigt, das eine barbusige Meerjungfrau mit erhobenem Zeigefinger auf blauem Grund ziert. Seit 1972 ist dieses Wappen das symbolische Kennzeichen für die Großgemeinde Wangerland.

Und Drittens schließlich ehrte man „Dat Minsener Seewief“ mit einer eine überlebensgroßen Bronzeskulptur. Sie wurde 1992 von der Künstlerin Karin Mennen aus Horum geschaffen und im Ortsteil Norderaltendeich zwischen Minsen und der Nordsee aufgestellt.

An dieser Stelle sei die Frage erlaubt, ob die Fischer von Minsen tatsächlich aus bloßem Spaß ein Lebewesen quälten. Viel wahrscheinlicher ist doch, dass sie keine Ahnung hatten, was man mit einer Meermaid anfangen sollten, zumal sich das Mischwesen mit Händen und Fluke zur Wehr setzte und sich dabei immer enger im Netz verwickelte. Ein gutes Fischernetz ist nicht billig. Und so ging es dem Fischer sicher weniger darum, ein Fabelwesen einzufangen als ihr teures Netz zu retten. Folglich zogen sie die Meerjungfrau an Bord und segelten nach Hause.

Dort war das „Seewiefken“ die Sensation. Jeder wollte es sehen, die Haare berühren, über die Schuppen streichen, und niemand wollte ihm etwas Böses. Im Gegenteil, man befreite es vom Netz, legt es in einer Scheune auf Stroh und brachte ihm Gerstenbrei, Kartoffeln und Salzheringe.

Aber wer konnte schon wissen, dass sich Meerjungfrauen fast ausschließlich von Meersalat und Hummer ernähren? Und so ziemlich das Schlimmste, das einem Fischwesen passieren kann, ist trockenes Stroh auf der Haut. Vor Juckreiz musste es halb verrückt geworden sein. Kein Wunder also, dass es bei nächster Gelegenheit das Weite suchte.

Dass wenig später über Minsen eine Sturmflut hereinbrach, war demnach kein Racheakt, sondern purer Zufall, der in dieser Gegend gar nicht so selten war.

. /. Herbert Biber 2018